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Von heute auf morgen

Ramazan hat dem Magazin ‘Kein Müller’ die Geschichte seiner Familie erzählt: von der PKK, einem plötzlichen Aufbruch und einem Neuanfang in Glarus.


Bild: zvg / keinmüller.ch


Dieser Text stammt aus dem Magazin "Kein Müller" von Svenja Tschannen und Sébastien Ross. Im Magazin berichten 10 Menschen von ihrer Reise in die Schweiz – 4 davon gehören zu unserer Gruppe. Hier kann man das Magazin bestellen.


Es gibt diese Augenblicke, die das Leben zeichnen. Sich schicksalshaft in das Gedächtnis

einbrennen. Die wirren Vorstellungen aus heiterem Himmel zu Tatsachen werden und Ängste wahr werden lassen. Für Ramazan Calisir (22) ereignete sich vor sechs Jahren ein solcher Moment. Mersin, eine geschichtsreiche Hafenstadt im Süden der Türkei. Ramazan ist 15 Jahre alt und lauscht in seiner Schule dem Unterricht. Es war bis dahin ein gewöhnlicher Tag gewesen – bis der Anruf kam. Seine Schwester rief in der Schule an, beorderte ihn unverzüglich nach Hause. Bereits auf dem Weg hatte er ein mulmiges Gefühl. Zuhause angekommen, realisierte Ramazan rasch, was passiert war. Die schmerzerfüllten Gesichter seiner weinenden Eltern sprachen Bände. Seine älteste Schwester hatte lediglich einen Brief auf dem Küchentisch zurückgelassen. Die gesamte Familie versammelte sich, um diesen symbolischen Abschied auf Papier, las die Worte immer und immer wieder durch. Sie erklärte ihre Beweggründe, weshalb sie sich für diesen Schritt entschieden hatte. Weshalb sie sich der PKK angeschlossen hatte und von nun an für die Unabhängigkeit Kurdistans

kämpfen wollte. Jeder und jede wusste sofort, was passiert war. Es war zwar abzusehen, doch es ist einer dieser Gedanken, die man jahrelang verdrängte. «Dieser Moment war für uns alle ein absoluter Schock und ein dramatischer Augenblick». erzählt Ramazan. «Das ist kaum in Worte zu fassen, was da in einem vor sich geht.» Bis zu diesem wegweisenden Moment vor sechs Jahren verbrachte Ramazan eine sorglose Kindheit. Mersin ist eine Stadt, in der Plurikulturalität vorgelebt wird. Kurden treffen auf Türken und umgekehrt. Auch Ramazan und seine Familie gehören der Minderheit an. In der Schule spielte er mit seinen türkischen und kurdischen Freunden. «Ich fühlte mich wohl in Mersin, hatte dort alles was ich brauchte», erinnert er sich zurück. «Mein Ziel war es, Webdesign zu studieren.»


Doch mit den Jahren realisierte Ramazan, dass seine scheinbar heile Welt anfing zu bröckeln.


Mehr und mehr häuften sich Vorfälle, in denen er die Abneigung der Türken gegenüber den Kurden am eigenen Leib zu spüren bekam. «Wenn ich den Menschen erzählte, dass ich Kurde sei, kriegten sie Angst. Die Kurden wurden vermehrt als Terroristen propagandiert und instrumentalisiert.» Eine Folge jahrelanger medialer Beeinflussung der türkischen Regierung führte zu radikalem Umdenken in breiten Teilen der Bevölkerung. Kurden werden aus ihren Lebensräumen verdrängt und vertrieben. Historischer Auslöser war die Gründung der Republik Türkei im Jahre 1913. Der eigentliche Begründer und erste Präsident der heutigen Türkei, Mustafa «Atatürk» Kemal, versicherte den kurdischen Stammesführern und Politikern einen gemeinsamen Staat von Türken und Kurden. Das den Kurden gegebene Versprechen wurde bis heute nicht eingehalten - nach der erfolgreichen Gründung stellte die Regierung um Atatürk das Türkentum in den Mittelpunkt seines politischen und kulturellen Neuanfangs. Alle Einwohner, die einer anderen Nationalität oder Ethnie angehörten, sollten sich der neuen Ordnung kulturell und sprachlich unterordnen – so auch die Kurden. Ein ungelöster Konflikt, der bis heute anhält.


Die Entscheidung der Schwester, sich der radikalen PKK anzuschliessen, hatte ihren Grund in den politischen Prägungen der Familie. Schon seit Jahren setzten sich die Eltern für ein unabhängiges, freies Kurdistan ein. Sie waren beide Mitglieder einer Partei, die sich für die Rechte der Kurden einsetzt. Über die Ideologie, Weltanschauungen und kulturellen Differenzen haben sich die Eltern immer wieder unterhalten. Die Politik habe sicherlich auch die Kinder geprägt, meint Ramazan: «Wenn wir Besuch hatten, haben wir Kinder diese Gespräche natürlich mitbekommen. Auch über die PKK wurde gesprochen. Ich wusste aber lediglich, dass sie für die Unabhängigkeit und Autonomie von uns Kurden einstehen und diese verteidigen – ich glaube, man kann sagen, dass ich sicherlich ein positives Bild der PKK hatte.»


Ramazans Schwester war 22 Jahre alt, als sie die Familie unangekündigt verliess.


Vom einen auf den anderen Tag war sie nicht mehr zuhause. Sie wusste: Ihre Mutter hätte sie nicht gehen lassen. Zwar war die Schwester politisch engagiert, dieser Schritt schien dennoch radikal. Die Familie wurde einige Tage später telefonisch von der PKK informiert. Ramazans Schwester war mittlerweile in den Bergen angekommen, wo die kurdischen Kämpfer ihre Stellungen hatten. Ramazan ist Realist, schon seit jeher. «Meine Mutter sagte mir manchmal, ich wirke wie ein 40-Jähriger – so stoisch und gefasst. Entsprechend ging ich auch mit dieser Situation um.» Akzeptieren statt nachtrauern war seine Devise. Er wusste, dass man nichts daran ändern könnte. Ihre Entscheidung war gefallen. Die Trauer in der Familie war gross: «Natürlich nimmt einen so etwas mit. Wir standen alle unter Schock, jeder versuchte auf seine Art mit der Situation umzugehen.» Die Lage war kompliziert, zumal auch keinerlei Kontaktmöglichkeit bestand. Drei Jahre später, am 16. November 2016, erhielt die Familie einen Anruf. Es war der Moment, der niemals hätte eintreten dürfen. Nicht so früh. Nicht auf diese Art und Weise. Nicht so weit weg von der eigenen Familie.


Am Telefon erfuhr die Familie, dass die Schwester im Kampf gefallen war.


Es wiederholte sich das gleiche Bild wie vor drei Jahren: Wieder versammelte sich die ganze Familie in der Wohnung. Wieder war der Schmerz den Gesichtern anzusehen. «Der Moment, als wir vom Tod meiner Schwester erfuhren, war unglaublich schwer. Vor allem für meine Mutter, sie hatte auch grosse psychische Probleme. Ich versuchte für sie da zu sein, nicht zu weinen. Ich wollte die Situation nicht noch schlimmer machen. Deshalb weinte ich nur in der Nacht, wenn ich für mich alleine war.» Der Tod der Schwester traf die Familie wie ein Schlag. Doch bei dem seelischen Schaden sollte es nicht bleiben. Der Tod eines Familienmitglieds, das Mitglied in der PKK ist, schlägt hohe Wellen –die Neuigkeit verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die übermächtige, autoritäre Regierungspartei AKP duldet die PKK nicht, stuft sie als terroristische Gruppierung ein – und sämtliche Verwandte von Mitgliedern der PKK haben einen entsprechend schweren Stand. Auch Ramazan und seine Familie bekamen dies zu spüren. Die Jobchancen liegen praktisch bei null, da die Partei in der Gesellschaft gut vernetzt ist und Informationen spielend weitergibt. Auch sonst werden die als Terroristen abgestempelten Familienmitglieder vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt und von den Menschen gemieden. «Die Situation wurde so prekär, dass wir nicht mehr dort bleiben konnten. Wir fürchteten auch Verhaftungen und Angriffe der Polizei. Willkürlich werden Leute verhört, verschleppt. Das Risiko war zu gross.»


Ramazans Eltern trafen ein paar Monate später die schwere Entscheidung, die Türkei zu verlassen.


Ziel war es, in die Schweiz zu gelangen – ein Verwandter lebte bereits dort und berichtete ihnen viel Gutes. Der Vater organisierte gefälschte Pässe und ein Visum, anders wäre eine Ausreise nicht möglich gewesen. Ramazan war noch nie im Ausland gewesen, geschweige denn in einem Flugzeug. Entsprechend gross war die Aufregung vor dem Flug. Ungewissheit bereiteten ihm vor allem die hohen Sicherheitsvorkehrungen und Passkontrollen am Flughafen Istanbul. Als das Flugzeug abhob und die Lichter der Stadt immer kleiner wurden, war die Erleichterung entsprechend gross – andererseits war es aber der definitive Schritt in eine ungewisse Zukunft: «Das war ein bedrückender Moment. Ich musste meine Heimat und Freunde zurücklassen. Dies gehörte ab jetzt alles der Vergangenheit an.


Ich trat in ein komplett neues Leben ein, wie ein weisses, blankes A4-Papier.» Für Ramazan eröffnete sich in Glarus eine komplett neue Welt. Aufgewachsen im sommerlich warmen Küstengebiet, fand er sich plötzlich inmitten riesiger Berge und eisiger Kälte wieder. Aber nicht nur die geografischen Einflüsse prasselten auf ihn ein, auch die Menschen und Sprache waren anders und gewöhnungsbedürftig. «Zu Beginn habe ich mich hier nicht wohlgefühlt. Es war für mich alles neu. Im Hinterkopf war natürlich auch die zurückgelassene Heimat und der immer präsente, automatische Vergleich mit dem, was man kennt. Auch bei Freundschaften habe ich heute noch das Gefühl, dass die Schweizerinnen und Schweizer eher distanziert sind.» Doch mit den Jahren findet sich die Familie zunehmend besser zurecht. Und auch Ramazan erkennt seine Chancen, will auf eigenen Füssen stehen. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten besuchte er zuerst eine Berufspraxis-Schule und befindet sich zurzeit in seiner Vorlehre zum Pfleger. «Ich möchte hier lernen, mich weiterbilden. Mittlerweile ist mir bewusst geworden: Ich bin meinen Eltern enorm dankbar, dass sie sich zu diesem Schritt entschieden haben. Die Schweiz ist ein Land, wo man sicher leben kann. Ich bin motiviert und habe ein Ziel vor Augen», sagt Ramazan über seine Zukunftspläne.

Und das, obwohl er einige Dinge nicht ganz so streng sieht: «Diese extreme Pünktlichkeit finde ich manchmal anstrengend. Aber ich akzeptiere diese Kultur natürlich, das gehört dazu. Ich gebe mir immer Mühe, pünktlich zu sein und war noch nie zu spät. » Das Blatt hat sich für Ramazan und seine Familie gewendet. Sie leben in Sicherheit, haben sich in einem fremden Land ein neues Leben aufgebaut. Ramazan ist glücklich hier, seinen Eltern geht es gut. Und dennoch: Es gibt Tage, da überschattet der Schmerz über den Verlust alles andere – zurück bleiben ungeklärte Fragen und der Wunsch nach Abschied: «Wir konnten meine Schwester nie beerdigen. Uns wurde erklärt, dass dies nicht möglich sei. Wir möchten gerne Abschied nehmen, in irgendeiner Form. Ich wünsche mir jeden Tag, dass sich unser Traum einmal erfüllen wird.»


Hier findest du mehr Informationen über das Magazin "Kein Müller". Du möchtest auch die anderen Geschichten lesen? Dann kannst du das Magazin hier bestellen.

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