top of page
Suche
  • AutorenbildMazay-Team

Die Geister von Samos

Wie ergeht es Menschen, die es (noch) nicht bis hierher geschafft haben? Mazay-Mitglied Roger berichtet von seinen 7 Wochen als Freiwilliger auf der griechischen Insel Samos.



Ich ging nach Samos, um mit eigenen Augen zu sehen, wovon ich schon viel gehört hatte. Gerne möchte ich nach sieben kurzen Wochen meine Gedanken dazu mit euch teilen. Es geht hier nicht um die verfahrene politische Situation, sondern einzig und allein um meine persönlichen Erfahrungen in der kurzen Zeit, die ich vor Ort verbracht habe. Mir ist zudem bewusst, dass sich auf der Welt und aktuell auch in Europa viele andere, furchtbare Ereignisse abspielen. Vergleiche aufzustellen wäre sinnlos und wird den Schicksalen der Menschen, egal ob in Syrien, in der Ukraine oder in Griechenland, niemals gerecht.


Ich habe in der Skills Factory gearbeitet, ein Projekt des kleinen Schweizer NGOs selfm.aid. Gegründet wurde selfm.aid 2021 von Simon und Julia, zwei Menschen, die sich dazu entschieden haben, ihren Lebensmittelpunkt dorthin zu verlegen, wo sie ihre Energie mit den Menschen teilen können, die in unserer grossen Welt einen kleinen Platz weg von Gewalt, Hunger und Perspektivlosigkeit suchen. Sie alle haben ihre Heimat und grösstenteils auch ihre Familien verlassen, mit der Hoffnung in Europa ein menschenwürdiges Leben führen zu dürfen. Die Ansprüche sind minimal so scheint es mir: Sicherheit, Selbstbestimmung und das Recht zu träumen.


Heute sind sie in Samos. Sie stecken hier fest, können weder rückwärts noch vorwärts. Sie existieren, und tuen sie es nicht mehr, scheint es niemanden zu interessieren. Mayele* war auch auf Samos, später in Kavala. Er hat die Option nicht mehr zu existieren der Realität, die sein Leben war, vorgezogen. Simon und Julia haben alles stehen gelassen und sind noch am selben Tag zu ihm geflogen. Sie haben dafür gesorgt, dass Mayele einen Grabstein kriegt, der so farbenfroh ist, wie er es war. Das passiert eigentlich nicht. Die Menschen hier, tot oder lebendig, sind Geister.


In der Skills Factory dürfen Sie alle Menschen sein, die wertgeschätzt werden, auf Augenhöhe mit ihrem Umfeld. Sie dürfen tun, was sie können, oder lernen, was sie gerne könnten. Sie dürfen fliehen aus einem Alltag, der geprägt ist von Sinnlosigkeit, und Tag für Tag in eine weit entfernte Realität eintauchen, die ihnen ein kleines bisschen Würde zurück gibt. Was die Skills Factory genau ist, könnt ihr hier nachlesen.

Die Situation, in der sich die Geflüchteten auf Samos befinden, ist erschütternd. Die teilweise schwer traumatisierten Menschen sind in der Ungewissheit gefangen. Oftmals jahrelang, isoliert im Würgegriff eines höchst fragwürdigen Systems, das nie dazu gedacht war, für die schutzbedürftigen Menschen hier zu funktionieren. Hinter Vathy, der Hauptstadt von Samos, sieht man die Zelte des sogenannten "Jungle", dem offenen Bereich des Flüchtlingslagers, angelegt und gewachsen in den Hügeln der Touristeninsel. Heute ist es menschenleer, die Zelte und selbstgebauten Baracken stehen aber alle noch da. Als ich es das erste Mal aus der Nähe sah, war ich schockiert. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass Tausende von Menschen dort über Jahre gelebt haben.


Fast genauso schockiert war ich, als ich das neue Lager zum ersten Mal gesehen habe. Weisse Baracken umgeben von hohen Zäunen, Stacheldraht und Sicherheitspersonal. Versteckt in den Hügeln von Samos, zu Fuss kaum erreichbar, in der Nacht hell beleuchtet mit Flutlicht. Es wurde ein Gefängnis erschaffen, das die Menschen auf der Insel isoliert. Man ging damit die offensichtlichsten Probleme des alten Camps an: die hygienische Situation, die Kälte des Winters, das Ausgeliefertsein der Frauen gegenüber sexueller Gewalt. Man tat es aber, so wie es scheint, nicht für die Menschen, sondern für die Aussenwirkung. Denn alle anderen Probleme, teilweise unsichtbar, wurden ignoriert, oder sogar verstärkt. Allem voran die psychische Gesundheit der Geflüchteten. Ich habe nicht eine einzige Person getroffen, der es in der aktuellen Lage gut geht. Man zerstört die Menschen und damit auch ihr Recht auf eine glückliche Zukunft.


Ich betrachte es als grosses Privileg, die Möglichkeit zu haben, als Freiwilliger mit den Geflüchteten vor Ort zusammen zu arbeiten. Millionen von Menschen befinden sich weltweit auf der Flucht, drei davon möchte ich euch kurz vorstellen. Es sind meine ehrlichen Gedanken zu diesen Menschen, es kann sein, dass sie falsch sind.

Bashir*, Anfang 20, aus Syrien

Bashir ist traurig. Er wirkt verletzlich wie kaum ein anderer Mensch, den ich kenne. Immer, wenn ich Bashir getroffen habe, hat er mich begrüsst, "Good morning Roger, how are you?". Seine Stimme ist schwach, obwohl er ein kräftiger Mann ist. Bashir machte immer den Anschein, als würde er mich mögen. Ich habe so gut es ging versucht, ihm unaufdringlich, aber herzlich zu begegnen. Ich denke, dass er das geschätzt hat. Bashir hat oft Dinge repariert. Beigebracht hat er sich das, wie so viele Menschen hier, selbst. Soweit ich weiss, ist Bashir stark suizidgefährdet, es gäbe ein ärztliches Attest, das dies bestätigt. An der Situation ändert dies nichts, Hilfe gibt es keine, es kümmert niemanden. Bashir ist ein Geist.

Am glücklichsten habe ich Bashir dann erlebt, wenn er gemalt hat.

Mabrouk*, Anfang 20, aus Syrien

Mabrouk ist unsicher. Er möchte gesehen werden, hat aber verlernt, dass er wertvoll ist. Mabrouk* hat einen Film über die Skills Factory produziert. Alles im Selbststudium, von den Aufnahmen bis hin zum Schnitt am Computer. Wir haben den Film am Tag der offenen Tür als Premiere gezeigt, Mabrouk war zu recht so unglaublich stolz auf seine Arbeit. Für mich war es einer der schönsten Momente auf Samos. Oft ist Mabrouk traurig und sichtlich überfordert mit seiner Situation. Er hat grosse Angst davor die Insel alleine verlassen zu müssen.


Früher war Mabrouk Jugendmeister in Karate, er hat zwei schwarze Gurte. Heute ist er ein Geist. Um es in Deinen Worten zu sagen, mein Freund: "I wish you all the best, my dear".

Mehran*, 40+, aus dem Iran

Ich war noch nie so fasziniert von einem Menschen wie von Mehran. Seine Kreativität und sein Schaffensgeist sind nicht in Worte zu fassen. Die wenigen Zeilen hier können ihm unmöglich gerecht werden. Mehran hat täglich Dinge erschaffen, die uns alle sprachlos machten. Eines Tages hat er alles verbrannt, es war ein schwieriger Tag. Der Anwalt, der ihm hilft, hat ihm eine Nachricht in Arabisch geschickt. Mehran spricht Persisch. Ein weiteres Zeichen, dass er nicht gesehen wird. Mehran ist ein wundervoller Mensch, der aber auch wie kaum ein anderer leidet. Er scheint ständig zwischen zwei Welten hin und her zu pendeln, unserer und seiner.


Mehran ist seit 6 Jahren auf Samos gefangen. Er ist ein Geist unter Geistern.


Ich wünsche mir von tiefsten Herzen, dass Mehran dort, wo er eines Tages sein wird, einen Ort wie die Skills Factory findet. Einen Ort wo er genau so geliebt wird, wie er ist.


Webseite: www.selfm-aid.ch Instagram: @selfm.aid


*Namen geändert

145 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page